Syrienkonflikt (Mai/ Juni 2011)
(Teil 1, 2 , 3, 4 , 5 , 6 , 7 , 8 , 9 , 10, Aktuelles)
09. Juni 2011
Die zunehmende Zahl von Flüchtlingen aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet könnte für die türkische Regierung, die noch immer fest hinter Baschar-Al-Assad steht, zu einem politischen Problem werden, sollte sich die Lage in Syrien weiter verschlechtern.
Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtet von 1050 asylsuchenden Menschen, die allein binnen eines Tages über die Grenze gekommen sind. Vor allem aus der grenznahen Stadt Dschisr al Schughur kommen Flüchtlinge, da die Einwohner einen baldigen Vergeltungsschlag der Armee für die vermeintliche Bluttat an Polizisten und Sicherheitskräften befürchten. Bis jetzt ist aber noch immer nicht geklärt, ob tatsächlich bewaffnete Banden - wie das Regime von Baschar-al-Assad behauptet - für die Gräueltaten verantwortlich sind oder ob es sich bei den getöteten Polizeikräften um Deserteure handelt, die hingerichtet wurden, weil sie sich weigerten, auf das eigene Volk zu schießen, wie von Oppositionellen behauptet. Augenzeugen berichten, dass Dschisr al Schughur mit seinen 50.000 Einwohnern von der Armee abgeriegelt worden ist und derzeit einer Geisterstadt gleiche, da sich niemand auf die Straße traue. Offenbar wird auf Demonstranten gezielt geschossen. Aber solche Aussagen sind leider nicht zu überprüfen, da Journalisten keinen Zugang erhalten. Bisher hat es größere Flüchtlingsströme nur im Süden des Landes gegeben, wo seit April etwa 5000 Menschen das Land verlassen haben.
Die tatsächliche Zahl der Flüchtlinge ist dennoch nicht ganz klar, denn das Außenministerium in Ankara sprach am gestrigen Mittwoch nachmittag - anders als die türkische Nachrichten-agentur Anadolu - nur von 420 Personen, die bislang in der Türkei Asyl beantragt haben.
Der türkische Außenminister erklärte unterdess, dass die Grenze auch weiterhin allen Syrern offenstehe. Auf Flüchtlingsströme sei man relativ gut vorbereitet, da man schon seit langen damit gerechnet habe.
06. Juni 2011
Offenbar sind in der Stadt Dschisr al Schughur(Gisr-as-Sugur) in Nordsyrien 120 Menschen, meist Polizisten und andere Sicherheitskräfte in einen Hinterhalt gelockt und anschließend erschossen worden, so zumindest die offizielle Darstellung des syrischen Staatsfernsehens. Das syrische Staats-fernsehen berichtet zudem, dass ihre Leichen zum Teil verstümmelt und in einen Fluss geworfen worden sind.
Mitglieder der Protestbewegung bestreiten allerdings die Darstellung des syrischen Staatsfernsehen vehement und vermuten vielmehr eine Meuterei unter den Polizisten. Die Opfer seien vermutlich Polizisten, die sich geweigert hätten, auf das eigene Volk zu schießen, so die Annahme der oppositionellen Protestbewegung. Da ausländische Journalisten von den Zentren des Widerstandes abgeschirmt werden und seit Beginn der Proteste vor fast drei Monaten auch keine Einreiseerlaubnis erhalten, ist eine "objektive", unparteiische Berichterstattung oder gar die Bestätigung der einen oder anderen Version des grauenvollen Massakers an Polizisten wohl kaum möglich. Schätzungen zufolge sitzen derzeit mehr als 10.000 politische Gefangene in syrischen Gefängnissen. Es wird angenommen, dass seit Beginn der Proteste gegen Assad bereits 1100 Menschen ums Leben gekommen sind. Während das Regime vom Ausland unterstützten Banden die Schuld gibt, reden Oppositionelle von einem ehrenvollen Kampf gegen Unfreiheit, Unterdrückung und für freie Wahlen.
04. Juni 2011
In Hamah sind offenbar am gestrigen Freitag mindestens 53 Menschen getötet worden, als
Heckenschützen gezielt auf Teilnehmer einer Kundgebung nach dem Freitagsgebet schossen. Ein Augenzeuge sprach gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters von hunderten Verletzen. Während die Opposition von ungefähr 50.000 Demonstranten sprach, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Sana dagegen nur von "hunderten Menschen", die sich in Hama an einer Kundgebung beteiligten. Das syrische Fernsehen berichtete von fast 10.000 Demonstranten, die sich an den Protesten gegen Baschar-al-Assad beteiligten. Vor 29 Jahren hatte der Vater des jetzigen Präsidenten, Hafez al Assad,eine Revolte blutig niedergeschlagen und große Teile der Stadt verwüsten lassen. Dabei sollen bis zu 30.000 Menschen zu Tode gekommen sein. Leider ist eine unabhängige Überprüfung der Angaben sehr schwierig, da die syrischen Behörden keine ausländischen Journalisten und Menschenrechtsgruppen ins Land lassen.
Kommentar
Angesichts der fortwährenden Gewalt in Syrien drängt sich die Frage auf, wieso der Westen und auch die NATO - anders als im Fall Libyen - hier in Syrien so zurückhaltend mit militärischen Maßnahmen ist. Hierfür gibt es wohl eine ganze Reihe von Gründe:
Zum einen ist Libyens Revolutionsführer Gaddafi schon immer ein für den Westen undurchsichtiger und windiger Herrscher gewesen. So hatte er einst sogar international gesuchten Terroristen Unterschlupf gewährt und war wohl auch in den einen oder anderen terroristischen Anschlag im Ausland direkt verwickelt. Auch in Sachen Flüchtlingsproblematik schien Gaddafi in letzter Zeit ein zunehmend unzuverlässiger Partner zu sein, hatte er doch jüngst von der EU 5 Mrd. Euro gefordert, um weiterhin Flüchtlinge aus Afrika an Ihrer Reise nach Europa zu hindern. Insofern war und ist seine Beliebtheit im Westen sehr gering - anders Baschar al-Assad, der für den Westen stets ein zuverlässiger und wichtiger Partner und ein Garant für Stabilität im Nahen Osten war.
Aber dies ist nicht der einzige Grund, warum man im Fall Syrien deutlich zögerlicher ist.
Die Chancen eine UN Resolution gegen Syrien bei Stimmenenthaltung von China und Russland zu erwirken, stehen schlecht, ja fast aussichtslos. Ohne eine gültige UN-Resolution ist wohl auch keins der NATO Länder bereit, militärisch einzugreifen.
Zudem ist die NATO in Sachen Syrien noch weit mehr zerstritten als im Fall Libyen. Libyen hat deutlich gezeigt, wie schwer es ist, einen Systemsturz nur aus der Luft zu erwirken. Unschwer ist zu erkennen, wie sehr die Interessen und Ansichten der einzelnen NATO-Mitglieder bereits hier auseinander gehen und wie hilflos und wenig durchdacht der Militäreinsatz daher auf die Weltöffentlichkeit wirkt.
Im Fall Syrien befürchtet beispielsweise die Türkei als wichtiges NATO Mitglied im Zuge einer militärischen Intervention große Flüchtlingsströme. Zudem unterhält die Türkei eigentlich gute Beziehungen zur Regierung in Damaskus. Des weiteren ist man sich bewusst, dass Baschar-al-Assad wegen seiner exzellenten Kontakte zu Libanon und zum Iran ein wichtiger Verbündeter im Nahen Osten ist. Man möchte unter allen Umständen einen nicht vorhersehbaren Flächenbrand in der wirtschaftlich so wichtigen Ölregion vermeiden.
Zudem liegt Syrien in unmittelbarer Nähe zu Israel, einem wichtigen Verbündeten der USA, und es ist wohl verständlich, dass kein Land direkt vor seiner Haustür einen Krieg entfacht haben möchte. Die strategisch wichtigen Golanhöhen, die einst zu Syrien gehörten, sind bis heute von israelischen Truppen besetzt.
Zuletzt sind es auch die großen Ölvorkommen, die es in Libyen zu beschützen gilt, während Syrien in dieser Hinsicht für den Westen eher unattraktiv erscheint. |
Zwischenstand Ende Mai:
Die syrische Regierung
setzt auf gezielte Einschüchterung und schreckt dabei offenbar Berichten zufolge auch nicht vor Folter und gezieltem Tötungen zurück. Die Staatsmacht versucht mit Drohungen und gezielten Schüssen den Aufstand zu unterdrücken. Tagtäglich würden Handys beschlagnahmt und auf Videos hin untersucht. Auch Ärzte werden offenbar daran gehindert, Spuren von Gewalt- oder Folteropfern zu dokumentieren.
Soldaten, die ihren Befehl verweigern, werden umgehend hingerichtet. Amnesty International spricht von gezielten Tötungen. Ausländische Journalisten dürfen nicht einreisen. Insbesondere die vierte Division, die von seinem Bruder Maher kommandiert wird und auf Präsident Assad eingeschworen ist, gilt als besonders gefährlich. Seit Beginn der Proteste gegen Präsident Baschar al-Assad vor zweieinhalb Monaten sind nach Angaben der Opposition bereits 1000 Menschen getötet und 10.000 festgenommen worden. Von den durch die EU und die USA verhängten Sanktionen zeigt sich Assad unbeeindruckt, denn die arabischen Nachbarn, die Türkei, Russland und China lassen ihn gewähren. Insofern ist eine UN- Resolution gegen Assad, anders als gegen Gaddafi nicht in Sicht.
23. 5. 2011
Die EU hat nun auch ein Einreiseverbot sowie die Kontensperre für Assad beschlossen.
Die Türkei steckt im Umgang mit Syrien in einem Dilemma. Einerseits nennt der türkische Premier Erdogan Assad einen politischen Freund, andererseits kann die Türkei aber auch nicht zusehen, wie Assad gegen sein eigenes Volk militärisch vorgeht. Denn schließlich gibt es auch verwandtschaftliche Beziehungen in den Bevölkerungen. So gab es bereits in der Nähe des Istanbuler Taksim-Platzes eine erste kleinere Demonstration von mehreren Hundert Menschen gegen das Regime in Damaskus.
Insofern mahnt Ankara Baschar al Assad eindringlich, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen und den Dialog zu suchen, denn der türkische Premier möchte nicht vor die Wahl gestellt werden, sich entweder für seinen politischen Freund Assad oder das syrische Volk entscheiden zu müssen. Erdogan fürchtet, dass weitere Unruhen in Syrien den gesamten Nahen Osten entflammen könnten. Die Türkei teilt mit Syrien eine 800 km lange Grenze.
10. 5.2011
Lange hat es gedauert... Ab heute gilt ein von der EU verhängtes, umfassendes Waffenembargo sowie Reise- und Vermögensbeschränkungen gegen 13 Personen, die für Gewalttaten gegen friedliche Demonstranten verantwortlich gemacht werden. Präsident Assad selbst ist aber noch immer nicht von den Sanktionen betroffen. Das mag verstehen wer will.
Auch die USA geben an, ihren Druck auf Assad erneut verschärft zu haben. So haben die USA Sanktionen gegen drei ranghohe Regierungsmitglieder sowie gegen den Geheimdienst und die iranischen Revolutionsgarden verhängt.
Unterdessen hat die syrische Regierung Erkundungsteams der Vereinten Nationen nun doch- obwohl ursprünglich zugestimmt- die Einreise in die Rebellenhochburg Daraa untersagt. Deren Aufgabe sollte es eigentlich sein, den Bedarf an Hilfsgütern in der Region um Daraa zu ermitteln und Möglichkeiten des Transportes dorthin abzuklären.
Daraa war in den letzten Wochen Schauplatz blutiger Kämpfe gewesen und war deshalb von Regierungstruppen von der Außenwelt abgeschottet worden. Nun scheinen aber erneut, Panzer in die Dörfer rund um Daraa eingerückt zu sein. Erneut soll es viele Tote gegeben haben.
Niemand weiß so richtig, was sich tatsächlich in den besetzten Provinzen abspielt, denn Journalisten werden Visa und erst recht der Zugang zu Zentren des Widerstandes verweigert. Dennoch, Assad scheint noch immer gewissen Rückhalt gerade in der Hauptstadt Damaskus, beim Mittelstand und bei den Intellektuellen zu haben. Diese Gruppen setzen auf Stabilität und fürchten nichts mehr als ein unberechenbares Danach. Insofern bleibt die Revolution in Syrien ein Aufstand der Provinz und der ländlichen Gebiete. Um zu überleben und die Macht zu erhalten, setzt die Regierung in Damaskus auf eine große Zahl an gut ausgebildeten Soldaten und ihren Geheimdienst, der allgegenwärtig zu schein scheint und wegsperrt, wer die öffentliche Ruhe gefährdet.
08. 5. 2011
Auch am Samstag wird von zahlreichen Hausdurchsuchungen und Festnahmen in der Hafenstadt Banias berichtet. Panzer sind in der Stadt positioniert worden.
Unbestätigten Berichten zufolge sind in der Nacht zum Sonntag auch syrische Panzer in die Industriestadt Homs vorgerückt. Es wird von Schüssen berichtet. Hubschrauber kreisen offenbar über der Stadt. In der Küstenstadt Banias wird von Massenverhaftungen berichtet. Telefon- und Internetverbindungen sind gekappt worden. Der Zugverkehr von und nach Daraa, Banias, Homs und Damaskus steht offenbar weitestgehend still.
07. 5. 2011
Offenbar ist die syrische Armee in die Hafenstadt Banias eingerückt. Es wird von zahlreichen Hausdurchsuchungen und Festnahmen bei Sunniten berichtet. Stadtteile mit alawitischer Bevölkerung sind nicht betroffen.
06. 5. 2011
Die EU hat sich auf ein Sanktionspaket gegen Syrien verständigt. Dazu gehören Einreiseverbote und Vermögenssperren gegen 13 Vertreter der Regierung in Damaskus, nicht aber gegen Präsident Assad. Maßnahmen gegen Präsident Assad sollen gesondert zu Beginn der kommenden Woche diskutiert werden. Am Freitag sind nach den Freitagsgebeten unbestätigten Berichten zufolge 26 Menschen in verschiedenen Städten des Landes (Homs, Hama, Latakia und Dschabla) getötet worden. Menschenrechtsaktivisten vermuten landesweit bis zu 8000 Festnahmen. Die USA haben bereits diverse Wirtschaftssanktionen gegen mehrere Mitglieder der syrischen Führung verhängt, drohen aber mit weiteren Sanktionen, sollte die Gewalt gegen regierungskritische Demonstranten sowie die Massenverhaftungen nicht aufhören.
-> SYRIEN:Chronologie der Ereignisse Teil 1)
(Juli/August 2011), Teil 2) März/April 2011)
-> SYRIEN: interessante Artikel der Online-Presse/Medien
|